A
uf dem kleinen Gang der Polizeikrankenstation
saß eine junge Beamtin in Uniform auf einem Stuhl und starrte
Löcher in die Luft. Als sie Alexander
und Donati bemerkte, zuckte sie zusammen, ihre Haltung straffte
sich, und sie blickte Donati schüchtern an. Der Dirigente blieb vor
ihr stehen und deutete auf
die Tür, neben der sie saß. »Liegt hier die Inhaftierte
Vida?«
Während die Polizistin noch eifrig nickte, spürte
Alexander ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen. Es
gefiel ihm nicht, daß Donati von der Inhaftierten Vida
sprach. Verzweifelt fragte er sich, was in der vergangenen Nacht
vorgefallen sein mochte. Aber wenn er
ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß sein Unwohlsein auch
aus der Vorstellung resultierte, Elena
gleich gegenüberzustehen.
Laute, erregte Stimmen drangen auf den Gang, ein Mann und eine
Frau. Alexander mußte an seinen zwei Monate zurückliegenden Streit
mit Elena denken. »Wer ist noch da drin?« fragte Donati.
»Commissario Bazzini.«
Bevor die Polizistin noch ganz ausgesprochen hatte, riß Donati
schon die Tür auf.
Alexanders Blick fiel auf das Krankenbett, in dem Elena lag, einen
Verband um den Kopf. Er las Verwirrung in Elenas Augen und, so
glaubte er, Wut. Bazzini, der mit verschränkten Armen neben dem
Bett stand, wirkte ebenfalls verwirrt und wütend. Seine Verwirrung
hatte mit Donatis Erscheinen zu tun – und seine Wut vielleicht
ebenso. Auch er hatte sich Hoffnungen auf den Posten eines
Dirigente Superior der neuen Dienststelle gemacht und war noch
nicht darüber hinweg, daß Donati ihm vorgezogen worden war. Donati
selbst hatte Alexander davon erzählt.
»Buon giorno, Signor Dirigente«, sagte Bazzini förmlich. »Was führt
Sie in die Krankenstation?« »Die Kranke«, erwiderte Donati knapp
und wandte sich Elena zu. »Wie fühlst du dich?«
Alexander und Elena waren mit Donati befreundet; daß sie sich nun
in Polizeihaft befand, brachte ihn in eine seltsame Lage.
Elena legte eine Hand an ihren verbundenen Kopf. »Da drin wütet
noch ein Hornissenschwarm und will einfach keine Ruhe geben. Sonst
ginge es mir ganz gut, wenn Commissario Bazzini mir nicht auf
Teufel komm raus einen Mord anhängen wollte.«
»Ich will Ihnen nichts anhängen und muß das auch gar nicht, denn
Ihre Täterschaft steht für mich außer Frage«, knurrte Bazzini. »Je
eher Sie gestehen, desto milder wird Ihre Strafe
ausfallen.«
»Aber warum sollte ich Monsignore Picardi ermorden?«
»Ja, warum?« wiederholte Bazzini. »Sagen Sie es mir, Signorina
Vida!«
Als sie schwieg, fragte Donati: »Was hat sich in der vergangenen
Nacht zugetragen, Elena?«
»Picardi hat mich spätabends angerufen und zu einem Treffen am
alten Annenkloster bestellt. Ich bin also hin durch das verfluchte
Unwetter, aber bei Sant’Anna fand sich weit und breit keine Spur
von Picardi. Zwei andere Typen waren da, die haben offensichtlich
in ihrem Wagen auf mich gewartet. Sie sind auf mich los, und ich
wollte mich im Kloster verstekken. Das war leider ein Schlag ins
Wasser – beziehungsweise auf meinen Hinterkopf, als die beiden mich
entdeckten. Mehr weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, waren
die Carabinieri schon da.« Donati sah Bazzini an. »Wer hat die
Kollegen alarmiert?«
»Ein anonymer Anrufer, der verdächtige Gestalten am Kloster gesehen
haben wollte. Daraufhin ist eine Streife ausgerückt und hat beide
einträchtig nebeneinander gefunden, die Täterin und ihr
Opfer.«
Elena funkelte den Commissario zornig an. »Glauben Sie, ich hätte
erst den Monsignore umgebracht und dann mich selbst
niedergeschlagen?«
Bazzini zuckte mit den Achseln. »Sie können in der Dunkelheit
gestürzt sein und sich dabei verletzt haben. Oder Monsignore
Picardi hat Ihnen die Kopfwunde kurz vor seinem Tod im Handgemenge
zugefügt.«
Zum ersten Mal, seit er die Krankenstation betreten hatte, ergriff
Alexander das Wort: »Wenn es so ein Handgemenge tatsächlich gegeben
hat, könnte ebensogut Picardi der Angreifer gewesen sein. Dann
hätte Elena in Notwehr gehandelt.«
»Ein berechtigter Einwand«, sagte Donati. »Unsinn!« raunzte
Bazzini. »Warum sollte ein hoher Kleriker aus dem Vatikan eine
Journalistin tätlich angreifen?«
»Und warum sollte eine Journalistin einen hohen Kleriker aus dem
Vatikan tätlich angreifen?« entgegnete Alexander.
Bazzini riß die Arme in die Luft. »Was weiß ich? Solange Ihre
Freundin die Tat nicht gesteht, wird sie uns auch nichts über das
Motiv verraten.«
»Ich bin nicht mehr seine Freundin!« sagte Elena kühl.
Donati räusperte sich, was gekünstelt klang, und fragte: »Was
wollte Picardi von dir, Elena?«
»Das hat er mir am Telefon nicht gesagt. Es muß schon etwas
Wichtiges gewesen sein, sonst hätte er mich nicht an einen derart
abgelegenen Ort bestellt. Ich habe auf heiße Insiderinformationen
aus dem Vatikan gehofft. Tja, und jetzt sieht es so aus, als sei
ich selbst die Schlagzeile.«
»Noch halten wir den Deckel auf der Geschichte«, sagte Bazzini und
zeigte mit dem Daumen zur Decke. »Anweisung von ganz oben. Man will
sich erst mit dem Vatikan besprechen.«
Donati versuchte es noch einmal: »Weißt du wirklich nicht, was
Picardi von dir gewollt haben könnte? Hast du vielleicht in letzter
Zeit mit ihm zu tun gehabt?«
»Nein.«
Bazzini musterte Donati mit unverhohlener Antipathie. »Wer führt
die Vernehmung, Sie oder ich? Haben Sie den Fall etwa übernommen,
Signor Dirigente?«
»Nein, Bazzini, es ist Ihr Fall. Aber ich habe, wie Sie wissen, ein
persönliches Interesse an Elena.« »Und ich habe ein ziemlich großes
Interesse daran, dem Polizeigewahrsam endlich zu entkommen«, sagte
Elena.
»Haben Sie denn keine Spuren von den beiden Männern gefunden, die
mir aufgelauert haben? Sie sind es doch wahrscheinlich, die Picardi
ermordet haben.«
Bazzini fuhr sich gelangweilt über sein grobporiges Gesicht. »Jaja,
die großen Unbekannten, sie sterben niemals aus.«
»Gab es keine Spuren von diesen Männern?« hakte Donati
nach.
»Alle Spuren werden derzeit untersucht«, antwortete der
Commissario.
»Es muß Reifenspuren von dem Wagen geben«, rief Elena. »Der Boden
war ja total aufgeweicht vom Regen.«
»Das schon«, erwiderte Bazzini. »Aber später in der Nacht hat es so
heftige Wolkenbrüche gegeben, daß vermutlich sämtliche Reifenspuren
weggeschwemmt worden sind.«
Mutlos ließ Elena sich in ihr Kissen zurücksinken und schloß die
Augen. Sie schien am Ende ihrer Kraft. Alexander wandte sich an
Donati: »Könnte ich mit Elena unter vier Augen sprechen?«
»Auf keinen Fall!« fuhr Bazzini dazwischen. »Das ist gegen jede
Vorschrift, wie übrigens überhaupt Ihre Anwesenheit hier, Signor
Rosin.«
»Dann kommt es auf einen weiteren Verstoß gegen die Vorschriften
doch nicht an, Commissario«, sagte Donati betont jovial. »Ich habe
vollstes Vertrauen zu Signor Rosin.«
Bazzini mußte an sich halten, um nicht aus der Haut zu fahren. Nur
äußerst widerwillig fügte er sich dem ranghöheren Donati und
verließ mit ihm den Raum.
Alexanders Blick ruhte auf Elenas schönem Gesicht mit den hohen
Wangenknochen und den grünen Augen. Das altvertraute Gefühl der
Zuneigung stieg in ihm auf. Seine Beine wurden wacklig, und er
wußte nicht, wo er beginnen sollte.
Elena machte es ihm leicht und fragte ungerührt: »Was willst
du?«
»Dir helfen.«
»Warum?«
»Weil du mir immer noch viel bedeutest. Ich habe keine Sekunde
geglaubt, daß du Picardi ermordet hast. Aber ich denke, daß du der
Polizei etwas verschweigst. Ich kenne dich. Wenn du bei dem
Unwetter zu Sant’Anna rausgefahren bist, mußt du einen guten Grund
gehabt haben, mehr als nur einen vagen Anruf. Um was geht es in
dieser Sache, Elena?« »Du irrst dich«, sagte sie ruhig. »Ich habe
nichts verschwiegen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das nehme ich dir nicht ab. Sag mir bitte
die Wahrheit! Ich will dir doch helfen, vertrau mir!«
»Dir vertrauen? Kommst du dir nicht selbst komisch vor, wenn du so
etwas sagst?«
Jetzt schwang Verbitterung in Elenas Stimme mit. Alexander konnte
sie verstehen. Daß ausgerechnet er sie aufforderte, ihm zu
vertrauen, mußte ihr nicht nur seltsam, sondern wie Hohn vorkommen.
Wortlos wandte er sich ab und verließ den Raum.